Stein: Protestantismus, Freiheit und Europa

01.11.2007 Reden FDP-Kreisverband Köln

Predigt von Hans H. Stein zu Allerheiligen in der Antoniterkirche Liebe Gemeinde, Sie haben ihn alle bestimmt im Ohr - den letzten Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens aus dem Jahr 1823. Mit ihm vertonte Beethoven Schillers "Ode an die Freude" aus dem Jahr 1785. 1985 wurde dieser Satz offiziell zur Europahymne erklärt. Schillers Gedicht entsprang seiner idealistischen Vision von einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, die durch das Band der Freude und der Freundschaft verbunden sind - von Menschen, die zu Brüdern werden. An dieses Ideal erinnert haben wir uns im März anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen die Grundlage für die Europäische Union gelegt wurde. In der in Berlin beschlossenen feierlichen Erklärung heißt es: „Die europäische Einigung hat uns Frieden und Wohlstand ermöglicht. Sie hat Gemeinsamkeit gestiftet und Gegensätze überwunden. (...) Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war.“ Die Menschen in Europa wurden zu Brüdern! Denken wir im Alltag an Europa, an die Europäische Union, so ist hiervon oftmals nicht viel zu spüren. Da ist dann meist von Eurokraten, von Reisezirkus und Geldverschwendung, von Europäischer Regelungswut fern ab von den Bürgerinnen und Bürgern die Rede. Diese Distanz war auch ein Grund dafür, weshalb der Europäische Verfassungsvertrag bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Selbst als sich vor wenigen Tagen die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten nach zweijähriger Reflektionsphase und langen Verhandlungen in Lissabon auf eine Erneuerung des Europäischen Vertragswerks einigten, war der Medientenor verhalten: Erleichterung statt Freude – und das, obwohl mit dem Reformvertrag die erweiterte Union handlungsfähiger - und zugleich demokratischer – werden soll, um den Herausforderungen der Zukunft gemeinsam besser begegnen zu können. Was ist das eigentlich für ein Europa, das uns zwar im Urlaub so nah, im Alltag aber so fern ist? Was sind seine Wurzeln? • Europa ist kein einheitliches Gebilde und ist dies nie gewesen. Europa ist ein Mosaik aus unzähligen kleinen und größeren Teilen. • Europa ist ein geografisches Unikum – es reicht vom Tejo bis zum Ural, vom Nordkap bis zum Mittelmeer. Und doch: Wer vermag – gerade was die östliche Ausdehnung angeht - ganz präzise zu sagen: Hier endet Europa. • Europa ist ein politisches Unikat: Aus der ursprünglichen Gemeinschaft der Sechs ist eine Union der 27 geworden, die sich in manchmal schwer durchschaubaren und langwierigen Prozessen zwischen Brüssel, Straßburg und den nationalen Hauptstädten auf gemeinsame Politiken und Projekte für über 500 Millionen Menschen verständigt. Seit über tausend Jahren – zum Teil erst durch den Einsatz großer Gewalt herbeigeführt (man erinnere sich nur der „Christianisierung“ durch Karl den Großen, auch Vater Europas genannt) – prägt das Christentum das Gesicht Europas. Unser Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche – in 7 Tagen schuf Gott die Welt - bis hin zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Dabei verband sich der christliche Glaube von Anfang an mit den unterschiedlichen regionalen Kulturen Europas. Er wurde eingebettet in die Lebenswelten der lateinischen, keltischen, germanischen oder slawischen Völker, die zusammen Europa bildeten. Die so über die Jahrhunderte hinweg entwickelten unterschiedlichen konfessionellen Räume sind bis in unsere Gegenwart spürbar. Sie beeinflussen - verbunden mit den Wirkungen der neuzeitlichen Aufklärung - die Kultur und das Lebensgefühl der Menschen bis heute. Wir haben dies zum Beispiel bei der Debatte über den Gottesbezug in der Europäischen Verfassung erlebt. Europa ist also geprägt von Veränderung und Pluralität. Es zieht seine kulturelle Substanz aus vielen Wurzeln. Die kulturelle und religiöse Prägung können wir an drei Zentren festmachen: • Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Ein Erbe übrigens, dessen Überlieferung zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zu danken ist. • Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. • Israel schließlich verdanken wir die Bibel, das Wort Gottes, unser Verständnis von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt. Die aus unserem Gegenüber zu Gott begründete Menschenwürde und die Freiheit sind aufs Engste miteinander verbunden. So schreibt Paulus an die Galater (5,1): „Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; darum stehet fest und lasset euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen!“ Daran knüpft die Reformation an, die den Weg für den modernen Verfassungsstaat und die neuzeitliche Freiheitsgeschichte (mit-)bereitete. Sie hebt den Zusammenhang von Freiheit und Mündigkeit des Menschen hervor und betont unsere Fähigkeit, als Christen von unserem Glauben eigenverantwortlich Rechenschaft abzulegen. Nur wer frei ist, sich zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht selbstverantwortlich zu entscheiden, kann sein Leben in Freiheit unter Achtung der Menschenwürde seiner Mitmenschen entfalten. Ein Schlüssel für den Wohlstand, in dem wir leben, ist die liberale, freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sich in Europa entwickelt hat und die dem einzelnen Menschen freie Entfaltung in Selbstverantwortung ermöglicht. Dieser Liberalismus, den der bedeutende, wenn auch in Deutschland fast vergessene Staatswissenschaftler und Nationalökonom Wilhelm Röpke „als legitimes geistiges Kind des Christentums“ bezeichnet, geht – so Röpke - aus „von der zum Guten fähigen und erst in der Gemeinschaft sich erfüllenden Natur des Menschen, von seiner über seine materielle Existenz hinausweisenden Bestimmung und von der Achtung (...), die wir jedem als Menschen in seiner Einmaligkeit schuldig sind und die es verbietet, ihn zum bloßen Mittel zu erniedrigen. (...)Entsprechend der christlichen Lehre, dass jede Menschenseele unmittelbar zu Gott ist und als ein abgeschlossenes Ganzes zu ihm eingeht, ist die einzelne menschliche Person das letztlich Wirkliche.“ Indem die Europäische Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb, freiem Personen-, Waren-, Dienstleistungsverkehr und Niederlassungsfreiheit bietet, ermöglicht sich es jedem einzelnen, sich frei zu entfalten und zu entwickeln. So können wir unsere Talente einsetzen, neue Ideen entwickeln und umsetzen und immer wieder Lösungen finden, wie wir bei begrenzten natürlichen Ressourcen dennoch die weltlichen menschlichen Bedürfnisse befriedigen können. Im Alltag nehmen wir diesen Rahmen, der uns individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und Wohlstand schafft, gerne als gegeben hin. Erst wenn auf einmal wieder Grenzzäune und –kontrollen errichtet werden, spüren wir, dass das, was wir in Europa erreicht haben, keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft ist, für die es sich einzusetzen lohnt. Die Freiheit des einzelnen Menschen ist aber zugleich durch die Liebe und die Verantwortung für den Mitmenschen gebunden - Wie es bei Matthäus (7, 12) heißt: „Alles nun, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ Oder wie Martin Luther (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520) schreibt: „Und obwohl der Christenmensch nun ganz frei ist, soll er sich gerade willig zum Diener machen, um seinem Nächsten zu helfen und mit ihm so umgehen und handeln, wie Gott an ihm durch Christus gehandelt hat.“ Diese Aufforderung, eine Situation aus der Perspektive des Anderen, anzusehen, für seine Sicht der Dinge Verständnis aufzubringen, ihm zu helfen, ist wohl das wirksamste Moralprinzip geworden, das, wenn nicht allein christlichen Ursprungs, so doch durch das Christentum vermittelt wurde. Wir sollten uns gerade in unserem Alltag daran erinnern. Ist es manchmal schon schwierig genug, seinen Partner oder Nachbarn zu verstehen, sich in ihn hineinzuversetzen, so ist es im internationalen Kontext eine umso größere Herausforderung, als wir mit Mitmenschen zusammenleben und –arbeiten, die teilweise in einem ganz anderen regionalen und kulturellen Kontext aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Vielleicht erklärt dies auch, warum mancher Abstimmungsprozess im gemeinsamen Europa etwas länger dauert, so dass man die Geduld verlieren mag. Wir sollten uns auch daran erinnern, wenn einmal wieder in den Medien die Unterstützung für die neu hinzugekommenen mittel- und osteuropäischen Staaten kritisiert wird und wenn beklagt wird, dass Deutschland der „Zahlmeister“ der Europäischen Union sei. Ziel des vereinten Europas ist gerade die wechselseitige Unterstützung, der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, oder anders formuliert, das brüderliche Füreinander einstehen. Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen bedeutet, mit diesem Respekt vor der Würde jedes einzelnen auch die europäische Pluralität anzuerkennen. Auf seine Weise hat das Christentum zu dieser Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Der Kirche wurde von Martin Luther aufgetragen, für die Wahrheit des Evangeliums "ohne Zwang, allein durch das Wort" einzutreten. Hieran sollten wir uns auch bei manchen Debatten, die etwa gerade in Köln geführt werden, erinnern. Der in Kürze von den Staats- und Regierungschefs zu unterzeichnende und anschließend von allen Mitgliedstaaten der Union zu ratifizierende Reformvertrag wird, wie es in der Präambel heißt, geschlossen - "Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben". Zu den Werten der Union heißt es weiter: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Beide Formulierungen machen zum einen den prägenden Einfluss des Christentums auf Europa deutlich. Zum anderen wird klar hervorgehoben, dass die Identität Europas nicht allein durch wirtschaftliche Interessen definiert ist. Sie kann auch nicht allein durch politische Institutionen verbürgt werden kann. Es ist keine Union der Staats- und Regierungschefs – auch wenn es manchmal auf uns so wirkt. Es ist eine Union aller Europäerinnen und Europäer. Dabei geht es in einer pluralen Ordnung um die Frage, wie diese unterschiedlichen Kulturen sich miteinander verbinden und aufeinander beziehen können. Kein gleichgültiges Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern ein Miteinander. Staats- und Regierungschefs können sich auf Gipfeln treffen und Deklarationen beschließen. Aber wir alle sind gefordert und haben die Verantwortung, das gemeinsame europäische Haus mit Leben zu erfüllen. Der Besuch unserer Freunde aus Liverpool anlässlich der Reformationsfeier ist hierzu ein wichtiger Beitrag. Wann aber haben Sie zum Beispiel das letzte Mal eine der Kölner Partnerstädte be- und den Austausch und das Gespräch gesucht? Liebe Gemeinde, Europa wird nicht von einem fernen Raumschiff aus gesteuert, das den Namen Brüssel trägt. Wir alle gestalten Europa. An einem in Frieden und Freiheit vereinten Europa mitzuarbeiten ist in unser aller Verantwortung. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker hat es einmal etwa so formuliert: Bevor jemand das gemeinsame Europa in Frage stellt, sollte er die Soldatenfriedhöfe besuchen. Europa beginnt bei uns in Köln vor der Haustür. In Köln ist ganz Europa zu Hause, Mitbürgerinnen und Mitbürger aus allen europäischen Staaten, ja aus allen Kontinenten, leben in unserer Stadt, sind unsere Nachbarn. Als Kölner wird mir wird dies spätestens dann immer wieder bewusst, wenn ich das Lied der Bläck Föös „Unser Stammbaum“ höre – quasi eine kölsche „Ode an die Freude“. In den Strophen wird beschrieben, wer alles auf welchen Wegen nach Köln kam. Im Refrain heißt es: „So simmer all he hinjekumme, mir sprechen hück all dieselve Sproch, Mir han dodurch su vill jewonne. Mir sin wie mer sin, mir Jecke am Rhing. Dat es jet, wo mer stolz drop sin.“ Lassen Sie uns alle gemeinsam stolz darauf sein, was in Europa erreicht wurde, wie Menschen als Brüder zusammen leben, und in froher Erwartung auf das, was wir gemeinsam und in christlicher Freiheit und Verantwortung weiter erreichen können. Amen. Hier geht es zu einem Portrait von Hans H. Stein.

Feedback geben